Kennen Sie die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Auf
der einen Seite der geniale Tüftler Dr. Jekyll, beseelt von dem Gedanken das
Böse in der Welt auszumerzen. Auf der anderen Seite der angsteinflößende Mr.
Hyde, sein gefährliches und blutrünstiges Alter Ego, in das er sich verwandelt
und das vor Mord und Gewalt nicht zurückschreckt.
Gestern gab es für Fußballdeutschland ebenfalls eine
Verwandlung zu sehen, von manchem Beobachter für ähnlich spektakulär befunden.
Da verwandelte sich der liebe Bundesjogi – denn nur weil man gerne in der Nase
bohrt, macht einen das noch nicht böse, zum Glück – in den gar nicht mehr so
lieben Herrn Löw, der den anwesenden Journalisten mal so richtig die Meinung
geigte.
Wenn der knuffige Bundesjogi zu Herrn Löw wird
Weil das, im von Abhängigkeiten und Gefälligkeiten geprägten
Sportsystem, nicht so oft vorkommt, schlägt das natürlich hohe Wellen. „Löw
lässt Dampf ab“, „Jogi Löw redet Klartext!“ titelte das Boulevard aufgeregt. Bei
genauerem Betrachten war es gar nicht so viel Klartext und Dampf wie angekündigt,
eher verwirrend.
„Sie glauben doch nicht, dass Millionen von Leuten vor dem
Fernseher sitzen und Millionen von Leuten auf den Straßen beim Public Viewing
sind, wenn da keine Siegertypen auf dem Platz stehen würden“, sagte Löw etwa
zur ewigen Führungsspielerdebatte.
"Fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt." Äh...ja.
Und weiter: „Wir haben mit dieser Mannschaft und diesen
Führungsspielern enorme Fortschritte gemacht. Wir haben fast alles gewonnen,
was es zu gewinnen gab.“ Naja außer die WM, die EM, den Confed-Cup. Die
unwichtigen Titel eben.
Argumentativ war Löw also etwas schwach auf der Brust, aber
das war Mr. Hyde ja auch. Und schließlich sagte schon der weise Jack Donaghy:
„Man kann Verrücktes nicht mit Rationalem bekämpfen.“ Wozu also argumentieren
bei all dem Blödsinn, der täglich im Blätterwald, Cyberspace und weiß der Himmel
wo sonst noch zu lesen, sehen oder hören ist.
Jogi war also richtig wütend? Nein. „Teile der Kritik ermüden
mich“ sagte der Bundestrainer. Klingt nicht sehr wütend in meinen Ohren. Aber
vielleicht war das ja nur die Ruhe vor dem Sturm.
Singen oder nicht singen, das ist die Frage
Das zweite große Thema: Das Singen beziehungsweise Nicht-Mitsingen
der Nationalhymne. Wie wenig heutzutage passieren muss, damit etwas ein „Thema“
wird, ist übrigens erstaunlich. Löw dazu: „Was ich fatal finde, ist dass man
den Spielern unterschwellig den Vorwurf macht, dass sie keine guten Deutschen
sind. Das finde ich schlecht.“
Klingt doch eigentlich ganz vernünftig. Und dass die
Forderung nach einer Hymnenpflicht ebenso Blödsinn ist, wie das Scheitern im Halbfinale daran
festzumachen, dass die Italiener mehr gesungen haben, daran glauben nicht
einmal die Politiker, die mit derlei Aussagen ihr konservatives Profil schärfen
wollen, geschweige denn die anwesenden Journalisten.
Totschlagargumente des Boulevard
Vielmehr hätte Löw die Frage stellen sollen, was eigentlich
in einem System schief läuft, in dem sich die Presse mit dem Gehalt solcher Aussagen
beschäftigt. Als hätte die Nationalhymne etwas mit der Einstellung auf dem
Spielfeld zu tun.
Aber schließlich ist der Mangel an Einstellung schon immer
das Totschlagargument, wenn man das, was auf dem Rasen passiert, taktisch nicht
begreifen kann und „die anderen waren besser“ als Erklärung zu plump erscheint.
Zu plump für das Boulevard – das muss ich erst einmal verdauen.
Michael Stricz
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